Als ich einmal einen Manager kokonierte


Es ist viele Jahre her, da bekam ich einen der seltsamsten Aufträge, die ich je in meinem Beraterleben ausführen durfte. Ich sollte einen Manager kokonieren. Der Kunde war ein namhaftes deutsches Großunternehmen, und dieses Unternehmen hatte ein Problem. Ein Manager dieses Unternehmens, nennen wir ihn Herrn Z., hatte in der Vergangenheit einigen Unfug angestellt. Er hatte nicht nur nicht zum Unternehmensgewinn beigetragen, sondern diesen sogar geschmälert. Alle bisherigen Versuche, Herrn Z. wieder in die richtige Bahn zu lenken, waren gescheitert. Seine Vorgesetzten hatten keine Hoffnung mehr, dass Herr Z. jemals in der Zukunft in irgendeiner Weise zum Unternehmenswohl beitragen könnte. Trennen wollte man sich aber auch nicht von ihm; also wurde beschlossen, ihn zu kokonieren.

 

Die Kunst des Kokonierens

Kokonieren kennen Sie nicht? Erkläre ich Ihnen! Die Seidenraupe verwandelt sich im Lauf ihres Lebens in einen Schmetterling, den Seidenspinner. Bevor die Verwandlung beginnt, hüllt sie sich ein in ein dichtes Seidengespinst, den Kokon. Solange sie sich im Kokon befindet, ist sie nahezu vollständig von der Außenwelt abgeschirmt. Im übertragenen Sinn kann man auch einen Manager in einen Kokon einspinnen und von der Außenwelt abschirmen. Im Gegensatz zur Seidenraupe gibt es aber zwei Unterschiede: Erstens muss sich der Manager nicht unbedingt später in einen hübschen Schmetterling verwandeln. Und zweitens merkt der Manager in der Regel gar nicht, dass er sich in einem Kokon befindet.

 

Die scheinbare Abteilung

Für Herrn Z. baute ich eine idyllische, nahezu perfekte Alibiabteilung auf. Er konnte darin schalten und walten, wie er lustig war, und es war ihm dennoch nicht mehr möglich, seinem Unternehmen Schaden zuzufügen. Er ging morgens aus dem Haus und sagte seiner Frau zum Abschied: „Schatz, heute habe ich wieder einen anstrengenden Tag vor mir!“ Dann verbrachte er den Tag mit Meetings und dem Produzieren von viel Papier. Abends ging er nachhause und verkündete stolz seiner Frau: „Schatz, heute habe ich wieder ganz viel geschafft!“

Ein Mittelständler würde spätestens an diesem Teil der Geschichte nicht mehr folgen können. Für viele Mittelständler ist die Firma eine Gemeinschaft, bei der jeder auf seine Weise zum Wohl des Ganzen beiträgt. Viele mittelständische Chefs täten sich schwer damit, einen Mitarbeiter zu beschäftigen, der nicht nur nicht zum Gelingen der Firma beiträgt, sondern deren Existenz sogar aufs Spiel setzt. Manche Mittelständler könnten sich dies auch gar nicht leisten. In einem Konzern oder einer staatlichen Organisation hingegen gelten andere Spielregeln. Es ist leicht, sich hier zu verstecken, ohne dass jemand merkt, dass man zum Gemeinwohl keinerlei Beitrag leistet.

 

Der Mann mit dem Akkordeon

Eines Tages nahm ich bei diesem Kunden an einer Unternehmensfeier teil. Die Gäste standen in der Halle und schlürften ihren Begrüßungsdrink. Da erschien ein Herr mit einer Quetschkommode, der darauf fröhlich musizierte. Erstaunt wandte ich mich an den Kunden: „Ich wusste gar nicht, dass Sie auch einen Entertainer engagiert haben.“

„Das ist kein Entertainer. Das ist der Herr X. aus der Abteilung Y.“

„Und welche Aufgabe hat der Herr X?“

„Der Herr X. hat keine Aufgabe. Der wurde vor einigen Jahren mal von irgendjemandem eingestellt. Keiner weiß, von wem und wozu. Seitdem ist der Herr X. da und bezieht sein Gehalt.“

Später nahm ich mal an einem der von Herrn X. veranstalteten Meetings teil. Es dauerte sehr lange und es wurde nichts Nennenswertes beschlossen. Ich ging nie wieder hin. Herrn X. brauchte man nicht zu kokonieren, den hatte offenbar bereits jemand kokoniert.

 

Fazit

Manche Organisationen befinden sich in einem Parallelkosmos, der aus lauter kleinen Scheinwelten und Alibiabteilungen besteht. Es kann keinen Zweifel daran geben, dass in vielen Organisationen kokoniert wird. Zweifeln kann man höchstens daran, dass das Kokonieren auf Dauer für die Organisation und deren Kunden von Vorteil ist.

[Tweet “Wer meint, nicht kokoniert worden zu sein, hat es vielleicht bloß noch nicht bemerkt.”]

Falls Sie als Mitarbeiter einer Organisation der Meinung sind, egal was Sie beschließen, was Sie in Meetings verkünden und welche Unterlagen auch immer Sie produzieren, es hat praktisch keinerlei Auswirkung, dann sind Sie möglicherweise bereits kokoniert worden. Dann können Sie entweder genau das tun, was die meisten in dieser Situation tun würden: Es sich im Kokon so richtig gemütlich machen und die Annehmlichkeiten eines gewohnten Arbeitsumfelds und regelmäßigen Einkommens genießen. Oder aber, Sie gehen den anderen Weg, brechen den Kokon auf und werden als Schmetterling wiedergeboren. Ihre Wahl!

 

photo credit: Farming butterflies (license)

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