Visionär trifft Erbsenzähler. Eine wahre Geschichte.

Was vor dem Show-down geschah

Es war einmal vor langer, langer Zeit. Ich arbeitete auf einem Projekt für ein Unternehmen, in dem eine völlig neue Strategie umgesetzt werden sollte. Es gab zwei Top-Manager, die hauptsächlich dafür verantwortlich waren. Die beiden hätten unterschiedlicher nicht sein können. Der eine war ein Visionär. Er sprudelte über vor Ideen, wie man Dinge ganz anders machen konnte als bisher. Einige seiner Ideen waren ziemlich ungewöhnlich, manche gingen auch schief, aber im Großen und Ganzen war ein guter Teil seiner Ideen von Erfolg gekrönt. Der andere war ein Erbsenzähler. Er legte Wert darauf, dass alles seine Ordnung hatte, dass stets der Dienstweg eingehalten wurde und dass allen Formalitäten genüge getan wurde.

Im Rahmen der neuen Strategie wurde ein umfangreiches Portfolio neuer Projekte aufgesetzt. Um einen steten Überblick über die laufenden Projekte zu haben, wurde ein regelmäßiges Meeting ausgerichtet unter der Leitung des Erbsenzählers. Dem Erbsenzähler macht es großen Spaß, dieses Meeting zu leiten. Er legte allergrößten Wert darauf, dass das Meeting stets auf das gründlichste vorbereitet war. Es gab für jede Veranstaltung eine umfassende und detaillierte Agenda, die auf die Minute genau eingehalten werden musste. Zudem gab es einen Katalog formaler Kriterien, nach denen die Projektleiter auf diesem Meeting zu berichten hatten. Der Erbsenzähler wachte streng darüber, dass diese auch eingehalten wurden. Man hatte fast den Eindruck, dass das Einhalten formaler Kriterien für den Erbsenzähler wichtiger war, als der Inhalt der Präsentation selbst.

Während der Visionär anfangs noch regelmäßig die ersten paar Veranstaltungen als Teilnehmer besuchte, entschied er sich bald, diesem Event fernzubleiben. Er kam zu dem Schluss, dass seine Zeit besser investiert war, wenn er Probleme löste und anstehende Aufgaben erledigte, statt auf diesem Meeting herumzusitzen. Außerdem wurde es zunehmend für alle anderen Mitarbeiter erkennbar, dass der Erbsenzähler und der Visionär in völlig anderen Welten lebten. Für den Erbsenzähler war der Visionär ein durchgeknallter Spinner, dessen Ideen etwas Kindisches hatten und schlichtweg wertlos waren, weil sie nicht den gängigen Konventionen entsprachen. Für den Visionär hingegen war der Erbsenzähler ein kleingeistiger Kästchenmaler, der in seiner Detailverliebtheit den Wald vor lauter Bäumen nicht sah.

Der Show-down

Eines Tages jedoch kam es zum Show-down. Da der Visionär eines der Projekte aus dem Portfolio betreute, war auch er schließlich an der Reihe, auf dem Meeting über den Status seines Projekts zu berichten. Obwohl dem Visionär ein wenig unwohl dabei war, auf dieser Veranstaltung quasi dem Erbsenzähler Bericht erstatten zu müssen, so kam er doch nicht darum herum. Er fühlte sich schließlich für sein Projekt verantwortlich und damit auch in der Pflicht, über dessen Fortschritt zu berichten. Er entschied sich, aufs Ganze zu gehen. Im Gegensatz zum Erbsenzähler, der sich in den vorangegangenen Monaten überwiegend der Verwaltungsarbeit widmete, hatte der Visionär eine Reihe mutiger Initiativen gestartet, von denen einige sich zu beachtlichen Erfolgen entwickelt hatten. Der Visionär entschied sich, in seiner Präsentation von diesen Erfolgen zu berichten. Als das geplante Meeting begann und der Visionär mit ein paar Minuten Verspätung den Raum betrat, hielten alle anwesenden Mitarbeiter den Atem an. Die Spannung im Raum war förmlich greifbar. Die Mitarbeiter der beiden Top-Manager spürten, dass der Erbsenzähler und der Visionär einander in tiefer Abneigung verbunden waren. Deshalb gingen sich beide für gewöhnlich aus dem Weg. Nun aber waren sie im selben Raum, und alle fragten sich, was wohl geschehen möge.

[Tweet “Er richtete vor Erregung zitternd seinen Zeigefinger auf eine Stelle im Text.”]

Der Visionär begann mit seiner Präsentation. Ich war als Teilnehmer anwesend und kann mich noch gut erinnern, wie beeindruckt ich von seinem Vortrag war. Der Visionär hatte tatsächlich in den wenigen vorangegangenen Monaten beachtliche Erfolge erzielt. Ich fragte mich, ob der Erbsenzähler wohl die menschliche Größe besäße, seinem Erzfeind die gebotene Anerkennung zu zollen. Die Spannung erreichte ihren Höhepunkt, als der Visionär am Ende seiner Präsentation angelangt war. Ein oder zwei Minuten lang herrschte völlige Stille im Saal. Alle waren aufs äußerste gespannt, wie der Erbsenzähler wohl auf die Präsentation des Visionärs reagieren würde. Zunächst einmal geschah nichts. Doch dann plötzlich schoss der Erbsenzähler nach vorne an die Leinwand, richtete vor Erregung zitternd seinen Zeigefinger auf eine Stelle im Text der letzten Vortragsfolie und schrie triumphierend: „Da fehlt ein Komma!“

Wahre Geschichte. So wahr ich Meyer heiße.

photo credit: Ryan McGuire via cc
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