Wie man die lähmende Schicht des mittleren Managements durchbricht.
Er kratzt sich am Kinn
Oberhuber kratzt sich am Kinn. Irgendetwas stimmt da nicht! Der Unternehmensbereich, für den Oberhuber zuständig ist, müsste eigentlich besser dastehen. Da ist irgendwo der Wurm drin. Wenn er nur wüsste, wo! Dabei haben die Mitarbeiter, die ihm unterstellt sind, wie immer berichtet, dass – abgesehen von ein paar Kleinigkeiten – alles im grünen Bereich sei. Insbesondere Mittelhuber hat sich wieder überschlagen mit seinen zahlreichen „grünen Ampeln“ in seiner Präsentation. Die Berichte seiner Mitarbeiter sind vollgestopft mit Information; und doch hat Oberhuber das seltsame Gefühl, dass das eigentlich Relevante nur selten zu ihm durchdringt.
Unterhuber kratzt sich am Kinn. Warum reagiert da oben in der Hierarchie eigentlich keiner? Schon vor Monaten hatte Unterhuber einen schwerwiegenden Fehler in den Unternehmensprozessen bemerkt. Wenn man nicht bald den Fehler korrigiert, könnte das dem Unternehmen schweren Schaden zufügen. Unterhuber hatte seinen Verdacht geprüft und nochmal geprüft, hatte ihn mit belastbaren Zahlen unterfüttert und dokumentiert, sowie einen Lösungsweg vorgeschlagen. Seinen Chef Mittelhuber hatte er bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass hier Handlungsbedarf besteht. Eigentlich hätte diese Information schon längst zu Oberhuber durchgedrungen sein müssen. Doch den Botschaften, die Oberhuber in seinem Unternehmensbereich verbreitet, kann Unterhuber entnehmen, dass Oberhuber keine Ahnung hat von der „Bombe“, die im Unternehmen vor sich hin tickt. Wenn er doch nur mit Oberhuber direkt sprechen könnte! Doch das würde gegen den Dienstweg verstoßen. Unterhuber weiß, dass Mittelhuber in dieser Sache keinen Spaß versteht. Ein Kollege von Unterhuber hatte einmal in einem Notfall an Mittelhuber vorbei nach oben kommuniziert. Mittelhuber hatte darauf hin diesem Mitarbeiter Dinge in die Personalakte geschrieben, die seine weitere Karriere im Unternehmen praktisch unmöglich machten.
Einerseits muss Unterhuber offiziell den Dienstweg einhalten. Andererseits ahnt er, dass wichtige Information auf diese Weise praktisch nie beim zuständigen Entscheider ankommt. Als Führungskraft im unteren Teil der Hierarchie hat Unterhuber zwar nur sporadisch Kontakt mit dem Kunden. Doch immerhin hat er überhaupt Kontakt! Diese gelegentlichen Kundengespräche, zusammen mit den Berichten seiner unterstellten Mitarbeiter, geben ihm ein recht gutes Bild davon, was der Kunde über sein Unternehmen denkt. Hat der Vorstandsvorsitzende nicht kürzlich auf der Aktionärsversammlung erzählt, dass die Kundenzufriedenheit oberste Priorität im Unternehmen genießt? Und dass davon das Unternehmenswohl abhängt? Wie kommt es, dass die Führungskräfte seines Unternehmen diese Kriterien scheinbar immer mehr aus dem Auge verlieren, je länger sie dort tätig sind?
[Tweet “„Manche halten das für Erfahrung, was sie 20 Jahre lang falsch gemacht haben.“ G. B. Shaw”]
Mittelhuber kratzt sich am Kinn. Jetzt hat ihn doch der Unterhuber schon wieder auf diesen angeblichen Prozessfehler aufmerksam gemacht. Langsam nervt das! Diese jungen Mitarbeiter mit ihrem Ehrgeiz und ihrem Idealismus. Kundenzufriedenheit! Unternehmenswohl! Papperlapapp! Früher hat Mittelhuber vielleicht auch mal so gedacht. Aber dann hat er auf die harte Tour eines lernen müssen: In diesem Konzern kommt man nur lächelnd nach oben! Im Berichtswesen sollte man nur Positives schildern. Großzügig in den grünen Farbtopf greifen. Und bitteschön das Wort „Handlungsbedarf“ vermeiden. Handlungsbedarf klingt so nach Veränderung. Wer Veränderung will, hat seinen Laden nicht im Griff. Wer Veränderung will, fällt negativ auf. Man löst ein Problem nicht dadurch, dass man es nach oben berichtet. Wenn man ein Problem nach oben berichtet, wird nicht das Problem gelöst, sondern der Überbringer der Botschaft geköpft. Mittelhuber weiß genau, warum er die wesentlichen Informationen niemals an Oberhuber berichtet. Es geht nicht um die Zufriedenheit des Kunden. Auch nicht um das Wohl des Unternehmens. Es geht um die Karriere des Mittelhuber. Und die könnte bei unangenehmen Botschaften Schaden nehmen. Das darf auf keinen Fall passieren.
Oberhuber kratzt sich am Kinn. Wie kommt er nur an die relevante Information heran? Vielleicht, wenn er direkt mit einigen Experten seines Unternehmens reden würde? Aber das darf er auf keinen Fall tun! Damit würde er das Signal geben, dass er für jeden ansprechbar ist. Wenn sich das herumspricht, würde er in der Information ertrinken, die von allen Seiten an ihn herangetragen wird. Deshalb ist Oberhuber eigentlich ein Anhänger des Dienstwegs. Sein mittleres Management filtert zuverlässig alles weg, was für ihn nicht relevant ist. Wenn er sich nur darauf verlassen könnte, dass die wirklich wichtige Information trotzdem zu ihm durchdringt. Aber kann er das?
Was spricht für den Dienstweg?
Der Dienstweg wurde ursprünglich mit einer guten Absicht eingerichtet. Deshalb vertrauen Oberhuber und zahlreiche andere Führungskräfte großer Unternehmen auf diese Art der Kommunikation. Eine höhere Führungskraft kann nicht mit jedem seiner unterstellten Mitarbeiter direkt reden. Das ist ein reines Mengenproblem; dazu fehlt schlicht die Zeit. Außerdem ist ein Großteil der Information aus unteren Ebenen für die höhere Führungskraft nicht relevant. Einfache Mitarbeiter wollen auch mal wichtig sein. Sie blasen Nebensächlichkeiten zur existenzbedrohenden Krise auf, nur damit sie etwas zu erzählen haben. Die höhere Führungskraft ist an dieser Stelle überfordert, aus dem Wust an Meldungen jene Information herauszufiltern, die tatsächlich hohe Priorität verdient. Diese Filterfunktion übernimmt im Dienstweg das mittlere Management. So wird im Idealfall von Stufe zu Stufe die Information immer weiter verdichtet, bis ganz oben nur das Relevante ankommt. So ist das jedenfalls in der Theorie.
Was spricht gegen den Dienstweg?
Ziemlich viel! Der Dienstweg ist gut für Regelkommunikation über alles, was operativer Standard ist. Er versagt bei außergewöhnlichen Ereignissen. Er versagt außerdem, wenn Verantwortlichkeiten unklar sind. In der Theorie sollte es zwar für jeden Prozess einen Verantwortlichen geben, aber die Praxis zeigt, dass dies selten konsequent umgesetzt wird. Weit schwerer wiegt jedoch das Versagen des Dienstwegs bei außergewöhnlichen Ereignissen. In Zeiten wachsender Komplexität und anstehender gesellschaftlicher Veränderungen müssen wir davon ausgehen, dass anfallende Information zunehmend außerhalb des operativen Standards liegt. Der Dienstweg ist inzwischen kaum noch geeignet, die Kommunikationsbedürfnisse im Unternehmen abzudecken. Oder bildlich gesprochen: Wenn man auf dem Dienstweg einen Notruf tätigt, ist der Patient bereits tot, bevor der Krankenwagen eintrifft.
[Tweet “Bei einem Notruf auf dem Dienstweg ist der Patient tot, bevor der Krankenwagen eintrifft.”]
Welche alternativen Kommunikationswege gibt es?
Es gibt drei Wege der Kommunikation im Unternehmen. Zum einen gibt es den hierarchischen Weg. Dazu zählt vor allem der Dienstweg. Allerdings kann man den Informationsfluss zusätzlich stützen durch ein Berichtswesen, z.B. in Form einer Balanced Scorecard. Noch besser läuft es, wenn der Informationsfluss regelmäßig durch externe Analyse und Audits überprüft wird.
Der zweite Kommunikationsweg ist die Eskalation. Im Rahmen des Qualitätsmanagements oder des Risikomanagements werden Eskalationswege im Vorfeld festgelegt. Die müssen sich dann im Fall einer eventuellen Krise bewähren. Wenn der Eskalationsweg identisch mit dem Dienstweg ist, nützt er leider nicht viel. Dann kommt er an denselben Engpässen ins Stocken. Falls man Rückendeckung bei der Aufklärung benötigt, kann man die Revision einschalten und auf einen verstopften Kommunikationskanal aufmerksam machen. Dieser Vorgang ist zuverlässig, aber leider extrem langsam. Wesentlich schneller ist der Weg über einen Whistleblower. Doch Whistleblower leben gefährlich, weil viele Organisationen im Zweifel lieber den Botschafter einen Kopf kürzer machen als die Botschaft zur Kenntnis zu nehmen.
Der dritte Kommunikationsweg ist das soziale Netz. Dies ist die Kommunikation, die parallel zum Dienstweg stattfindet. Es sind die informellen Kanäle über Assistenten und Stabsstellen. Es sind informelle Veranstaltungen, bei denen man hierarchieübergreifend miteinander ins Gespräch kommt. Manche Führungskräfte setzen auch neutrale Beobachter ein mit dem Auftrag: „Sehen Sie sich die Abteilung mal vier Wochen lang an und dann erzählen Sie mir, was Sie davon halten!“
Was kann das obere Management tun?
Oberhuber fehlt die Zeit, sich mit jedem seiner unterstellten Mitarbeiter zu unterhalten. Dafür ist sein Unternehmen einfach zu groß. Aber er hat ein paar andere Möglichkeiten, an die relevante Information zu kommen:
- Über den hierarchischen Weg kann Oberhuber den Dienstweg stützen, indem er auf Ebene des unteren Managements relevante Kennzahlen in ein Berichtssystem eingeben lässt. So kann er sich bei Bedarf punktuell einzelne Kennzahlen ansehen und erfahren, welche Themen er im Auge behalten sollte.
- Für das mittlere Management ist meist der Anreiz größer, eine Gefahr zu vertuschen als über sie zu berichten. Das kann man ändern. Dazu muss das Berichtssystem so gestaltet sein, dass auch unterhalb des mittleren Managements Gefahren dokumentiert werden können und bei mangelnder Risikokontrolle das mittlere Management mit zur Verantwortung gezogen wird.
- Im Rahmen eines Audits kann Oberhuber an simulierten Fallbeispielen ermitteln, an welcher Stelle der hierarchische Kommunikationsweg Engpässe hat.
- Wenn der Eskalationsweg funktionieren soll, muss Oberhuber die nötigen Rahmenbedingungen dafür schaffen. Dazu gehört in erster Linie eine Unternehmenskultur, in der es erlaubt ist, auf Fehler hinzuweisen. Ein potentieller Whistleblower wird nur dann auf eine Gefahr aufmerksam machen, wenn er nicht befürchten muss, danach seinen Job zu verlieren oder ins Ausland flüchten zu müssen. Im Zweifel gilt: Lieber einmal zu viel als einmal zu wenig „Alarm!“ gerufen.
- Die Kommunikation über das soziale Netz kann Oberhuber fördern, indem er dafür sorgt, dass es gelegentliche informelle Veranstaltungen gibt (z.B. ein Grillfest), bei dem die Mitarbeiter miteinander ins Gespräch kommen.
- Oberhuber sollte es begrüßen, wenn seine Mitarbeiter informelle Informationskanäle nutzen. Andererseits sollte er eingreifen, wenn Mittelhuber Oberhubers Sekretärin anordnet, dass sie nicht mit Unterhuber reden darf. (Ein reales Beispiel aus dem Leben des Autors.)
- Oberhuber kann einen neutralen Beobachter, zum Beispiel einen externen Berater, damit beauftragen, Schwachstellen im Prozess und Gefahrenherde im Unternehmen aufzudecken.
- Über eine offene Unternehmenskultur kann Oberhuber signalisieren, dass Änderungen – wo sinnvoll – erwünscht sind. Kein Unternehmen war in den letzten 100 Jahren erfolgreich mit einem „Weiter so!“
Was kann das untere Management tun?
Unterhuber hat ein paar Dinge gelernt:
- Er sollte sich ein internes Netzwerk aufbauen. Dann hat er parallel zur offiziellen Hierarchie eine soziale Hierarchie. Wenn er das nächste Mal die Botschaft hat „Diese Sache ist gefährlich für das Unternehmen,“ dann hat er eine Stelle, wo er das prominent platzieren kann.
- Ein Manager ist kein Unternehmer. Das gilt auch für seinen Chef. Unternehmenswohl und Kundenzufriedenheit spielen für Mittelhuber eine geringe Rolle. Er will seine Position absichern. Er will gut dastehen und vielleicht auch noch Karriere machen. So mancher Mittelhuber wäre gern ein Oberhuber. Egal wo. Ob sein jetziges Unternehmen in zehn Jahren noch auf dem Markt ist, ist ihm egal.
- Manchmal glaubt nicht einmal der Vorstandsvorsitzende selbst an das, was er in der Aktionärsversammlung verkündet. „Wir wollen führend sein in …,“ schwärmt er in die Kameras hinein, oder: „Wir wollen Benchmarks setzen!“ Das sind Marketing-Formulierungen, bestimmt für die Öffentlichkeit, für die Presse, die Aktionäre und die Kunden. Im Unternehmensalltag muss das nicht unbedingt eine Rolle spielen. Sonst würde man es ja messen und die Messergebnisse allen Mitarbeitern transparent machen.
- Es reicht nicht, Recht zu haben. Es kommt auch darauf an, wie man die Information vermittelt. Falls es Unterhuber gelingt, die Gefahr so darzustellen, dass Mittelhuber sich als Held und Retter in der Not positionieren kann, kann er mit dessen Unterstützung vielleicht sogar bis zu Oberhuber durchstoßen.
[Tweet “Der Dienstweg hat ausgedient als Rückgrat der Kommunikation im Unternehmen.”]
Fazit
Der Dienstweg hat ausgedient als Rückgrat der Kommunikation im Unternehmen. Wer auf den Dienstweg als alleinige Informationsquelle vertraut, der wird die relevanten Dinge stets als Letzter erfahren. Übrigens, was macht eigentlich Mittelhuber?
Mittelhuber kichert. Da hat ihm doch ein Kollege so einen albernen Witz per Email geschickt: Ein Unternehmer, ein unternehmerisch denkender Manager und ein Weihnachtsmann fallen vom Turm. Wer schlägt als erster unten auf? Der Unternehmer. Den gibt es nämlich wirklich. Die beiden anderen sind Fabelwesen.
photo credit: Jim Champion via cc
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