1846 wurde Ignaz Semmelweis Assistenzarzt in der Geburtshilfe-Abteilung im Allgemeinen Krankenhaus in Wien. Damals war das Kinderkriegen eine lebensgefährliche Angelegenheit. Bis zu 15% der Mütter starben im Krankenhaus, in einigen anderen Kliniken sogar bis zu 30%. Man nannte dieses Phänomen das Kindbettfieber. Semmelweis fand heraus, dass die Ärzte diese Erkrankungen über ihre Hände übertrugen. Er setzte durch, dass die Ärzte fortan vor der Untersuchung der Mütter ihre Hände desinfizierten. Semmelweis gelang es, die Sterblichkeitsrate auf unter 2% zu senken. Im Volksmund nannte man ihn deshalb später den „Retter der Mütter“.
Im Krankenaus wurde Semmelweis für seine Errungenschaften nicht etwa gelobt oder gefeiert. Im Gegenteil, die etablierten Ärzten und Professoren waren sauer auf ihn. Hygiene galt als Zeitverschwendung und widersprach den damals vorherrschenden Paradigmen. Semmelweis’ Bemühungen, seine Hygiene-Standards verbindlich in den Kliniken umzusetzen, stießen auf taube Ohren. Er sei eben jung und unerfahren, warf man Semmelweis vor, noch nicht etabliert und überhaupt habe er zu wenig publiziert. Einerseits waren Semmelweis’ Ideen ein Segen für die Menschheit, ihre Wirksamkeit ließ sich wissenschaftlich sauber nachweisen. Und doch sprach man ihm andererseits jede Glaubwürdigkeit ab.
[Tweet “Gute Ideen verhindert man am besten mit dem Semmelweis-Reflex.”]
Dies ist ein gängiges Phänomen bis in die heutige Zeit hinein. Man nennt es den Semmelweis-Reflex. Wenn ein Mensch, der bislang außerhalb unseres eigenen Wahrnehmungsfeldes agiert hat, etwas Neues hervorbringt, sagen wir nicht: „Tolle Sache! Haben Sie noch mehr so gute Ideen?“ Stattdessen fragen wir: „Wer zum Teufel sind Sie denn?“ Die besten Ideen kommen manchmal von den Personen, denen wir die geringste Glaubwürdigkeit zugestehen.
Bevor Steve Wozniak gemeinsam mit Steve Jobs im Jahr 1976 die „Apple Computer Company“ gründete, war er Angestellter bei Hewlett Packard. HP könne doch in den Bau von Heimcomputern einsteigen, schlug er seinem Chef vor, aber der nahm ihn nicht ernst. Seine Vorgesetzten sprachen ihm jede Glaubwürdigkeit ab. Der Vorzeigeunternehmer Jeff Bezos besitzt mit amazon das größte Kaufhaus der Welt. Eben dies Geschäftsmodell trug Bezos bereits seinem Chef vor, als er noch angestellt war. Der winkte bloß ab. Zu Beginn meiner beruflichen Laufbahn (da war ich noch ganz unten auf der Karriereleiter) geriet ich einmal im Besprechungssaal in eine Diskussion: Ob man die Maßnahme A lieber mit der Methode X oder der Methode Y umsetzen solle? Ich hielt die Maßnahme A für Unfug und schlug vor, die sinnlose Maßnahme A durch die sinnvollere Maßnahme B zu ersetzen. Mein Vorschlag fand kein Gehör. Stattdessen kam die unvermeidliche Frage: „Wer zum Teufel sind Sie denn?“
[Tweet “Werden gute Ideen angenommen, oder fragt man: „Wer zum Teufel sind Sie denn?“”]
Der Aktienkurs des Unternehmens legte bald darauf einen beeindruckenden Tauchgang hin. Das hatte weniger mit mir zu tun als vielmehr mit der Kultur des Unternehmens. Gute Ideen waren verboten, wenn sie von der „falschen“ Stelle kamen. Ich habe damals eines gelernt: Es lohnt sich, ein Gespür dafür zu entwickeln, ob in einer Organisation gute Ideen angenommen werden, oder ob man erst einmal fragt: „Wer zum Teufel sind Sie denn?“
photo credit: gagilas via cc